BR FF-KU-Thurnau 2013 Frau Miller-Gadumer mit KindernAn der Grundschule Thurnau gab es ganz besonderen Unterricht. Im Rahmen der Kulturwochen erkundeten die Kinder der ersten und dritten Klassen eine unsichtbare Welt.

Von Matthias Beetz (Bayerische Rundschau, (20./21. Juli 2013)

Thurnau - „Richtig cool“ findet die neunjährige Victoria die Aktion an der Grundschule Thurnau. Die Augen hinter einer Schlafmaske verborgen, erkundet sie ein Tast-Lesebuch auf dem Tisch vor ihr. „Das ist ganz schön ungewohnt, wenn man nichts sieht, sondern nur fühlt“, sagt das Mädchen, das sich einer Sache gewiss sein kann: Wenn sie die Maske wieder abnimmt, dann ist es für sie auch vorbei mit der Dunkelheit.

Gerade deshalb war die Neugier bei den Kindern ungeheuer groß, die im Rahmen der Thurnauer Kulturwochen „Schwantastisch“ jetzt einen ganz besonderen Unterricht kennenlernen durften. Die Frühförderung Sehen der bbs kulmbach, des Bildungszentrums für Blinde und Sehbehinderte, war an der Grundschule zu Gast.

Initiiert hatte die Schulstunde der besonderen Art der Thurnauer Töpfer Bernhard Noe. Dem 49-jährigen Künstler, der Schrift schon länger in seinen Arbeiten als Gestaltungselement benutzt, war beim Einsatz der Blindenschrift die Idee gekommen, das Thema über die Kulturwochen in die Schule zu tragen und „Schwantastisch“ auf eine noch breitere Basis zu stellen.

BR FF-KU-Thurnau 2013 Herr NoeBei Maria Miller-Gadumer von der Frühförderung, den Thurnauer Lehrkräften und bei Sandra Bali, Organisatorin von „Schwantastisch“, stieß die Idee sofort auf Zustimmung. „In der dritten Klasse passt das gut zum Thema Auge im Sachunterricht. Und in den ersten Klassen geht es um das Lesen lernen“, erklärt stellvertretende Schulleiterin Steffi Gunzelmann, die mit ihren Kolleginnen Christiane Mayer, Kerstin Friedrich und Stefanie Hartl samt Mutter Manu Weibbrecht und Töpfer Bernhard Noe den Unterricht von Maria Miller-Gadumer mitgestaltet.

In einem Puppenspiel lernen die Kinder den Erfinder der Blindenschrift, Louis Braille, kennen. Sie dürfen Tastbilderbücher mit unterschiedlichen Materialien erkunden. Und sie dürfen natürlich auch Bekanntschaft mit der Blindenschrift machen, auf die  in der Frühförderung hingeführt  wird.

Dass ein Buchstabe fast immer aus mehreren, aber gleichzeitigen  Anschlägen auf der Punktschriftschreibmaschine besteht, kann die meisten nur anfangs irritieren. Da lässt sich Victorias Banknachbar Tim auch vom Pausengong nicht bremsen und „hämmert“ seinen Namen gekonnt noch schnell auf das Spezialpapier.

Joshua, Kilian und Jana kümmern sich unterdessen – mit verbundenen Augen versteht sich – um Busfahrer Rudi und seine Fahrgäste, denen Fahrkarten durch aufgedruckte Blindenschriftbuchstaben zuzuordnen sind. „Blinde brauchen eine hohe Merkfähigkeit“, erklärt Maria Miller-Gadumer, was den meisten Kindern erstaunlicherweise wenig Probleme macht. Viktoria fühlt sich mit ihren kleinen Fingern sogar bis zur allerletzten Karte vor. „Das ist die Richtige“, sagt sie bestimmt.

Führungen für Blinde?

Dass das System „Auf der Taststraße zur Punktschrift“ in der Schule eine wirkliche Bereicherung für die Thurnauer Kunstwochen ist, unterstreicht „Schwantastisch“-Organisatorin  Sandra Bali. Und das vor allem deshalb,  weil es inzwischen Pläne gibt, im  Töpfermuseum Führungen für Blinde anzubieten. Immerhin war der Museumsbegründer Günter Stüdemann  im Alter auch stark sehbehindert.  Die Arbeit mit den Kindern jedenfalls macht ihr großen Spaß. Dass die Frühförderung Sehen dadurch noch bekannter wird, ist natürlich auch ihr Wunsch.

Vor allem aber der von Maria Miller-Gadumer. Die Diplompädagogin  betreut mit ihren Kolleginnen von Kulmbach aus derzeit rund 25 Kinder in ganz Oberfranken. „Wir fahren in die Familien und helfen sehbehinderten und blinden Kindern, sich im Alltag so selbstständig wie möglich zurechtzufinden“, erklärt sie und verweist auf eine enge Zusammenarbeit mit Kindergärten und Augenärzten.

Zielgruppe der Frühförderung Sehen sind Mädchen und Jungen im Alter bis zum Zeitpunkt der Einschulung.

Für die Eltern wirft die Betreuung keine Kosten auf, wie sie betont. Der Bezirk und die Kassen übernehmen den Aufwand. Und auch für Beratungszwecke steht die Kulmbacher Frühförderung jederzeit zur Verfügung. Denn nicht jedes Kind, das Blickkontakt meidet, ist autistisch; und nicht jedes Kind, das die Augen verdreht, ohne etwas anzuschauen, hat irgendein psychisches Problem. Oftmals ist es  eine beginnende Sehschwäche.

Victoria Kovalov und die Schulkameraden aus der 3a müssen sich am Ende der Übungen auch die Augen wischen, wenn sie plötzlich wieder dem hellen Sonnenlicht ausgesetzt sind. Das  besondere Gefühl, die Umgebung nur noch schemenhaft oder gar nicht optisch  wahrnehmen zu können, weicht schnell der Freude, in der Pause unbeschwert auf dem Hof herumtollen zu können. Aber was es bedeutet,  nichts zu sehen, das  wissen jetzt alle

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Frühförderung Sehen
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Diplompädagogin Maria Miller-Gadumer
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